Sonntag, 31. Oktober 2010

Buchstabensuppe

Montagmorgen auf der Stresemannstraße. Zwei junge Leute, beide mit Rucksäcken, fragen, wo denn die "Typografie des Terrors" sei.

Donnerstag, 28. Oktober 2010

Floraner: "Nüsse knacken ist Folter, Gemüseeintopf ist Mord!"

Sie verschmähen jegliche pflanzliche Nahrung, tragen weder Baumwolle noch Leinen – Floraner lehnen jede Nutzung von Pflanzen ab. Auch gemäßigte Floraner melden Zulauf: Die Deutschen essen immer weniger Gemüse und Obst, für Gemüse- und Obstbauern brechen magere Zeiten an. 

„Möhren werden brutal aus ihrer Erde gerissen, Äpfeln wird unter Qualen bei lebendigem Leib die Haut abgezogen, in Stücke geschnittene blutjunge Kartoffeln in siedend heißem Fett gequält – das alles mache ich nicht mehr mit“, sagt Thorsten Schlosser (46), seit fast zwei Jahren obst- und gemüselos. „Ein Radieschen hat auch Gefühle.“
Mit Thorsten Schlosser halten es nur zwei Prozent der Bundesbürger. Sie essen weder Obst noch Gemüse, obwohl in einer Fortsa-Umfrage zwölf Prozent der Meinung waren, „Gemüse ist ungesund.“.
Der Konsum aber sinkt beständig von 2005 bis heute von 120 auf 91 Kilo jährlich je Bundesbürger. Obstplantagen müssen schließen, viele Großmärkte schreiben rote Zahlen, Gemüseläden machen dicht. 
Der größte Feind der Obst- und Gemüsebranche ist dabei nach wie vor sie selbst. Berichte über qualvolle Enge in Gemüsetransporten, Blattläuse im Salat, Würmer in Äpfeln, eisenhaltiger Spinat, Kohlrabiwahn und Kartoffelpest, Gen-Tomaten, pflanzenverachtendes grausames Ernten und Umweltbelastung durch Kirschkerne verderben den Deutschen zunehmend den Appetit. 
Die konsequentesten und militantesten Kostverächter sind dabei die Floraner. Sie essen weder Obst noch Gemüse und verzichten dabei auf Kleidung aus Baumwolle und Leinen. Längst hat die Szene mit Zeitschriften („Erbsen- und Möhrenbefreiung aktuell“), Konzerte und Gruppen („Florane Offensive“) ein eigenes subkulturelles Netz geknüpft und bekocht sich selbst. Im Berliner Kiez-Treff „Jurke, wa!“ beispielsweise, einem autonom angehauchten Treffpunkt aus dem Stadtteil Kreuzberg ist jeden Freitagabend „Volxküche“: Da holen sich etwa 30 Jugendliche für fünfzig Cent „Kieselsteinsuppe mit Marmoreinlage“ ab. Diese Suppe soll, nach circa neunzehnstündiger Kochzeit sehr nahrhaft sein „und sehr, sehr lange vorhalten.“ Betonen die Jugendlichen. Sven Ebersbacher, einer der Volx-Küche-Köche musste zum Beispiel etliche Steinbrüche „bis nach Italien“ abklappern, bis er endlich das Rezept beisammen hatte. 
Auch für Floraner wird die Kleiderwahl zur Qual: Baumwolle und Leinen sind tabu. Wenn es kalt wird, trägt Ebersbacher Nyltest-Hemden aus den Sechziger Jahren, darüber einen neonfarbenen Trevira-Pullover. Gegen Regen schützt ein blauer Müllsack. 
Wenige Meter von Ebersbachers Volxküche entfernt liegt das Geschäft des Gemüsehändlers Gülan Özgül.  Nachts wurde es schon mit gemüsefeindlichen Parolen besprüht (siehe Foto). An einem Gemüsegroßmarkt halten Floraner jeden zweiten Mittwoch im Monat eine Mahnwache mit Transparenten wie: „Gemüse essen verursacht Gewalt gegen Pflanzen!“ 
Doch nicht immer so friedlich sind ihre Ziele: In Westfalen schlugen Floraner die Scheiben von zwei Gewächshäusern des „Blumenkohlbarons“ Heinrich Böckmann ein. Andere sabotierten vegetarische Restaurants oder sägen heimlich Gemüseregale in Bioläden an. In Mühlheim demonstriert „Vegetable Peace“ vor dem Gemüsegroßmarkt („Erbsen sind auch nur Menschen!“). 
Während die einen eine neue Ethik fordern, meint der österreichische Philosoph und Gemüserechtler Franz E. Pichelsteiner: „Wir brauchen für Gemüse keine neue Moral. Wir müssen lediglich aufhören, Gemüse aus der vorhandenen Moral auszuschließen.“ Die Befreiung von Obst und Gemüse sei deshalb heute ebenso wichtig, wie einst die Befreiung der Sklaven war. 
Thorsten Schlossers Traum vom Paradies aber ist, „irgendwann mal auszuwandern, da wo nur Steinbeißer leben, in eine Steinwüste oder so, ey…“

Sonntag, 10. Oktober 2010

Kindchenschema

Dienstagmittag vor Rogacki in der Wilmersdorfer Straße. Eine gestresste Angestellte räumt das gebrauchte Geschirr ab. Dann wirft sie einen Blick in einen in der Nähe stehenden Kinderwagen und sagt: "Sei froh, dass du noch nicht arbeiten musst."

Freitag, 8. Oktober 2010

Wo kommt eigentlich das Blaue Blut her?

Ein schmuckloser Hinterhof in Charlottenburg. Wir betreten eine große Fabrikhalle und werden von einem gepflegten Mittvierziger im klinisch reinen weißen Kittel begrüßt. Er stellt sich als Dr. Grewe und als der Leitende Parfümmeister vor. Derzeit arbeiten 20 Mitarbeiter bei BLAUES BLUT, davon über die Hälfte in der Produktion. „Das steigt jetzt aber bis zur Vorweihnachtszeit kontinuierlich auf 60 Mitarbeiter an“, sagt Dr. Grewe. 
Die Produktionsstätte sieht wie eine Hexenküche aus: Dampfende Laboreinrichtungen, Tiegel und Töpfe mit undefinierbaren Inhalten und an den Wänden Regale mit endlosen Reihen von Tinkturen und ätherischen Ölen. Über der Fabrikhalle liegt ein betörender Duft. 


Ein langer Tisch: Hier werden die Parfümfläschchen von flinken Fingern mit einem Etikett versehen. „Wir beliefern unser Parfüm neuerdings an eine große Kaufhauskette und sogar einige Königshäuser gehören zu unserer Kundschaft“ erzählt uns stolz Dr. Grewe. Doch welche, will er uns nicht verraten. „Top Secret!“ schmunzelt er. Bei soviel unerwarteter Resonanz hoffen er und der Graf von Blickensdorf , dass das BLAUE BLUT noch bekannter wird. Dafür sollen jetzt Werbespots sorgen. 
Auf seinem Schreibtisch liegen neben dem Wirtschaftsmagazin auch das Ratgeberbuch „Das Harvard Konzept. Der Klassiker der Verhandlungstechnik.“ Die BLAUES-BLUT-Macher haben noch viel vor.  Autorin: Bettina von Sell

Dienstag, 5. Oktober 2010

Westalgie

Dienstagabend im 100er Bus. Im Oberdeck sitzt ein sich anschweigendes älteres Ehepaar. Als der Fahrer am Reichstag vorbeifährt und die Station „Platz der Republik“ ausruft, ruft der Mann erleichtert aus: „Endlich wieder in Westberlin!“