Donnerstag, 29. Dezember 2011

Kastenweißbrot, Schnullerräuber und Rolf

Concerto Torte Lenôtre
Gestern war ich zufällig gerade in der Nähe vom KaDeWe und es war Kaffeezeit – meine schönste Zeit des Tages. Da freue ich mich immer schon den ganzen Tag drauf – auf eine kleine Auszeit bei Kaffee und Kuchen. Also fuhr ich schnurstracks in die 6. Etage zum Lenôtre, das für das Aushängeschild französischer Patisserie der Extraklasse steht.
Ich setzte mich gut gelaunt auf einen Barhocker am Tresen und bestellte einen Milchcafé – den ich prompt ohne dem obligatorischen Glas Leitungswasser bekam. Und das im berühmten KaDeWe, dem größten Kaufhaus auf dem europäischen Kontinent!
An der Kuchentheke versperrte mir eine junge Mutter mit ihrem Kinderwagen, der so groß war, dass Reiner Calmund bequem reingepasst hätte, die ganze Auslage des Tortenangebotes. Als ich sie höflich bat, das Monstrum etwas anders zu parken, sah sie mich mit toten Augen stumpfsinnig an wie ein Kastenweißbrot,
reagierte aber nicht. Sie ging nicht einen Millimeter mit ihrem Ungetüm zur Seite und unterhielt sich weiter mit einer Bekannten über einen gewissen „Mirko“, wahrscheinlich der Kindsvater.
Da ich nicht als mutmaßlicher Schnullerräuber verhaftet werden wollte, versuchte ich nur kurz über den Kinderwagen, aus dem es säuerlich roch, in die Kuchenvitrine zu spähen, bestellte hastig ein Stück Pralinentorte namens „Concerto“ mit Blattgoldverzierung (siehe Foto) und setzte mich wieder auf den unbequemen Barhocker. Aber immerhin noch besser als an den zahlreichen Stehtischen.
Nach dem ersten „Concerto“-Gabelbissen begann in meinem Gaumenraum nicht nur ein Concerto, sondern eine wahre Sinfonie. Alle Sorgen dieser Welt waren blitzartig vergessen! Pjotr Iljitsch Tschaikowski hätte in diesem Augenblick bestimmt eine ganze Sinfonie über dieses Geschmackserlebnis geschrieben. Piano beginnend über forte, um mit fortissimo den Höhepunkt der Gaumenexplosion zu vollenden – doch dazu kam es nicht. „Is‘ dit Ihr’s?“ schreckte mich eine rauhe Raucherstimme auf. Es war ein schinkenspeckgesichtiger Mann Mitte Fünfzig mit Bierbauch und in schlammfarbener Vintagekleidung, der extrem nach Zigarre stank und angewidert auf meine Collegemappe und meinen Übergangsmantel auf dem Barhocker neben mir deutete, als lägen da zwei halbverweste Weißfische. Falls der Mann eine gute Kinderstube genossen hätte, hätte es so geklungen: „Entschuldigung, ist der Barhocker noch frei?“ Hatte er aber nicht. Leider! Ich nahm trotz seiner ruppigen Art freundlich nickend meine Sachen, mangels Garderobe, notgedrungen auf meinen Schoß. Nun saß ich da, eingezwängt wie in einem überfüllten Luftschutzbunker im zweiten Weltkrieg – doch in Wirklichkeit saß ich im bekanntesten Kaufhaus Europas und aß meine Torte zu 4,95 Euro zu Ende. Versehentlich goss ich zu allem Überfluss auch noch reichlich Kaffeesahne in meinen Milchcafé, weil der Kaffeesahnebehälter genauso wie der Zuckerstreuer aussah. Und hinter meinem Rücken schubberten sich gaffende Touristen in teurer High-Tech-Kleidung vorbei, als müssten sie gleich noch zu einem Biwak in die Eigernordwand.
Zu meiner anderen Seite saß ein weißhaariger Mann, der der Bedienung ständig schlüpfrige Zweideutigkeiten zuraunte, dessen Wiederholung hier mir meine gute Erziehung verbietet. Ich wollte hier nur weg. Subito! Ich zahlte für einen mittelmäßigen Milchcafé mit zu viel Kaffeesahne und ein hervorragendes Stück Torte 8,50 Euro. Im Weggehen hörte ich noch, wie das ungehobelte Schinkenspeckgesicht mit feuchter Aussprache in sein Mobiltelefon dröhnte: “… ja, Dommrepp… da ha‘ ick ma von meener Ollen janz schön belatschen lassen...“. Er meinte mit „Dommrepp“ wahrscheinlich die Dominikanische Republik.
Auf dem Weg zur Rolltreppe sah ich, wie in der Teeabteilung einem Mann eine Packung Rooibush-Tee auf den Boden fiel. Anstatt ihn aufzuheben und ihn wieder ins Regal zu legen, ging er einfach achtlos weiter. Ich hob die Packung auf und legte sie zurück an ihren angestammten Platz und nahm die Rolltreppe, auf der ich auch noch von einem südländisch aussehenden Ehepaar angerempelt wurde, ohne dass man sich dafür entschuldigte. Plötzlich endete die Rolltreppe unverhofft in der 3. Etage. Ich fand aber keine andere Rolltreppe, die nach unten fuhr. Da ich in weiter Ferne einen Fahrstuhl entdeckte, beschloss ich, dort hin zugehen. Doch besser gesagt als getan.
Eine russische Oligarchengroßfamilie mit vielen sperrigen Tüten und Paketen bepackt, versperrte mir den Weg zum Fahrstuhl. Alle waren gerade mit ihren brillantenverzierten iPhones dabei, simsend die Welt um sich vergessend. Als ich höflich fragte, ob ich bitte einmal vorbei dürfe, wurde ich plötzlich mit allen russischen Flüchen bombardiert, die es in Russland gibt. Ich wollte nur raus, raus, raus! Ich bekam schlechte Laune und schaffte es gerade noch wie ein geprügelter Hund in den Fahrstuhl – doch oh Gott! – er fuhr wieder nach oben! Irgendwann fand ich dann aber die normale Rolltreppe. Am Ausgang gingen die Menschen kuhherdenartig ein und aus, ohne sich gegenseitig die Türen aufzuhalten. Endlich stand ich wieder unten auf der Straße vor meinem treuen Miele-Fahrrad. Ich schwang mich auf den Sattel und fuhr los in Richtung Heimat.
Während ich auf dem Kurfürstendamm von rüpelhaften Taxifahrern und übelgelaunten BVG-Bus-Fahrern gefährlich geschnitten wurde, dachte ich über die schlechten Umgangsformen nicht nur reicher Zeitgenossen nach. Sind es etwa die skrupellosen und unmoralischen Verhaltensweisen von Politikern und Bankern, die sich nun auf die Umgangsformen der Bevölkerung niederschlagen?
Während ich noch darüber nachdachte, sah ich von weitem Rolf Eden, der gerade zu Fuß an der Ecke Kurfürstendamm die Knesebeckstraße überquerte. Als er mich sah, rief er mir gut gelaunt „Exzellenz!“ zu und deutete augenzwinkernd einen Hofknicks an. Na bitte! Es gibt sie doch noch – die wohlerzogenen Leute - plötzlich war meine ganze schlechte Laune wie verflogen. Danke Rolf!

1 Kommentar:

  1. Siehste mein lieber Lo, es gibt sie noch, die Helden des Alltags mit guten Manieren!
    Aber ich kann es Dir gut nachempfinden. Ich erlebe hier in meiner Wahlheimat Hamburg oft ganz ähnliche Szenen.

    Ein chinesisches Sprichwort sagt:"wenn Du nicht lächeln kannst, eröffne kein Geschäft!" Bis dahin scheint es auch nahezu ein jeder zu kennen. Was viele nicht wissen, der wunderbare Spruch geht dann noch weiter und lautet:"jedoch solltest Du auch kein Geschäft betreten, wenn Du nicht lächeln kannst!"

    Ein Hoch daher (nicht nur zum Jahreswechsel) auf den neuen deutschen Adel, der ob wohlhabend oder nicht, die alten Tugenden wie gute Manieren und soziales Engagement wieder unter die Menschen trägt.
    Eine Herausforderung der ich mich gern stelle!

    Also, auf in den Freitag! :-)

    Herzlichst Ihr
    Jens E. Graf von Babelsberg zu Griebnitzsee

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