Dienstag, 2. Dezember 2014

Jubelgraf

Jubel Dreierlei Petit Fours Graf von Blickensdorf
Wenn man durch den ungepflegten S-Bahnhof Greifswalder Straße geht und auf die Straße tritt, ist Berlin ganz arm und unsexy. Menschen mit grauen Gesichtern und ebensolcher Kleidung hetzen an einem vorbei und bei der Kälte sieht man ihren regelmäßig ausstoßenden Atemhauch, nur unterbrochen von stakkatoartigem Husten.
Überall sieht man Billigkauf- und Fastfoodketten und ein Imbiss der „Lecker & Satt“ heißt. Fehlt nur noch die Kneipe „Saufen & Lallen“, denke ich. Von weiter Ferne blinkt mir Patisserie Jubel Graf von Blickensdorfnervös der Fernsehturm durch das triste Herbstgrau entgegen, als wolle er mich zum umkehren bewegen.
Doch ich lasse mich von ihm nicht ins Bockshorn jagen und promeniere neugierig die Greifswalder Straße in südlicher Richtung herunter, vorbei an tristen Häusern und dem ungepflegten Ernst-Thälmann-Park mit seinem gleichnamigen Denkmal, das über und über mit schlecht gemachten Graffitos übersät ist. Hier möchte man noch nicht mal seinen räudigen Hamster begraben. Überall verwaiste Dauerbaustellen und unansehnliche Plattenbauten aus der ehemaligen DDR im Waschbeton-Look. Und hin und wieder entdecke ich längst ausgestorben geglaubte Videotheken. Wahrscheinlich besitzen die Bewohner hier noch Videorekorder, die so groß wie Tiefkühltruhen sind, in die sie lexikongroße VHS-Kassetten schieben, um sich in grauen Trainingsanzügen Made in GDR und sich literweise Ost-Cola hineinschüttend, Filme wie „Die Olsen-Bande - alle Folgen“ oder die Shows von „Ein Kessel Buntes – Best of“ reinzuziehen. Weil ihnen nämlich niemand gesagt hat, dass Deutschland inzwischen wiedervereinigt ist und es mittlerweile das Internet gibt.
Direkt gegenüber von Ernst Thälmanns verschmiertem Denkmal befindet sich der „Schnitzel-König“ mit XXL-Schnitzeln so groß wie Autoreifen und DDR-„Spezialitäten“ wie „Würzfleisch“, „Schopska-Salat“ und „Soljanka“, die hoffentlich nicht so alt wie die Wiedervereinigung sind und eigentlich ins Museum müssten.
Doch sobald man die Danziger Straße überquert hat, ändert sich wie durch Zauberhand das Stadtbild. Hipsterläden aller Art fallen einem ins Auge und die ersten, um 14 Uhr gerade aufgestanden Gothic-Hipster in Miniaturzimtschokokuss Jubel Graf von Blickensdorfschwarzen Fledermaus-Mänteln und bleichen Gesichtern, kommen mir mit dampfenden Togo-Kaffee-Bechern in den dünnen Tattoo-Fingern entgegen. 
Als ich links in die Hufelandstraße einbiege, fällt mir ein unscheinbarer Schriftzug einer Patisserie ins tortengeschulte Auge: „Jubel“. Komischer Name für eine Patisserie, denke ich und trete gespannt ein. Drinnen fällt mir sofort die geschmackvolle bauhausige Einrichtung mit pastelligen Fliesen (s. Foto Mitte) einer ehemaligen Fleischerei an der Wand positiv auf. Ich setze mich an einen schönen Tisch direkt am Fenster und beobachte amüsiert draußen auf der Straße zwei verfrorene Männer vom Ordnungsamt mit roten Nasen, die mit klammen Fingern Falschparker aufschreiben.
Nach mir kommen zwei männliche Hipster mit Schnauzbärten, wie ihn Folklore-Sänger Scott McKenzie in den 60igern trug. Ich wähle dreierlei Petit Fours (3,50 €, s. Foto oben) und bekomme von der freundlichen Bedienung den gutgemeinten Rat, in welcher Reihenfolge man sie am besten essen sollte (auf dem Foto oben von rechts nach links). Und sie hatte Recht! Zum ersten Mal bekam ich eine fachgerechte Tortenberatung! Dadurch erhielt ich das optimale Geschmackserlebnis. Die männlichen Hipster werden nach einer Weile von zwei weiblichen Hipstern mit bunten Hipstermützen abgelöst. Doch da schwebe ich schon im Siebenten Tortenhimmel und meine verwöhnten Geschmackspapillen jubeln so laut, dass ich Angst habe, dass die beiden weiblichen Hipster, die sich zwei Tische weiter gesetzt haben, können auf mich aufmerksam werden.
Zum guten Schluss gibt es noch einen Miniaturzimtschokokuss (s. Foto unten) auf Kosten des Hauses (keine Bestechung, denn ich habe mich nicht als Tortengraf zu erkennen gegeben, denn ich trug zur Tarnung einen schwarzen Gothic-Fledermaus-Mantel, eine bunte Hipster-Mütze mit lustigen Bommeln und einen angeklebten Scott-McKenzie-Schnauzbart. Nein! Natürlich nicht! Kleiner Scherz des Autors dieser Zeilen).
Der Miniaturzimtschokokuss gab mir den Rest, selbst meine hintersten Geschmacksknospen wurden nun auch noch wach und feierten Jahrmarkt und ich wusste endlich, wie die P
âtisserie auf ihren komischen Namen kam: weil sie sogar einen Tortengraf zum Jubeln bringen kann!

Jubel - feine Pâtisserie, Hufelandstraße 10, 10407 Berlin

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